Harald Welzer: „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“, Frankfurt/Main (S. Fischer Verlag) 2019

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Es gab einmal eine Welt ohne Grenzen, viele Jahrtausende lang. Bis mindestens ins 18. Jahrhundert dienten Grenzen in Europa nur einem Zweck: Zölle und Steuern zu erheben. Darauf weist Harald Welzer in seinem Buch über „eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ hin.

Der Limes etwa, der römische Grenzwall, war nicht dafür gemacht, Menschen daran zu hindern, von einem Gebiet ins andere zu gehen. Heute dagegen geht der Trend in Richtung Abschottung. Grenzen, die Menschen ein- oder aussperren, sind eine sehr junge Erfindung. In Europa sind sie entstanden erst mit den Nationalstaaten, und damit auch die Staatsbürgerschaft. Strikte Grenzregime gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg, so Welzer. Erst damals seien nationale und ethnische Identität gleichgesetzt, eine Ausweispflicht eingeführt worden, was erst „ethnische Säuberungen“, Umsiedlungen und Völkermorde ermöglicht habe, „die das 20. Jahrhundert so antizivilisatorisch geprägt haben“.

Frei reisen können Menschen im Zeitalter der Globalisierung längst nicht mehr, sogar Touristen aus den reichsten Staaten benötigen über dicke Geldbündel hinaus eine Legitimation, während – schönes, erhellendes Aperçu Welzers – Kapital, Viren und radioaktiver Fallout überall hinkommen. Gegen Menschen schotten sich die Staaten inzwischen ab, Europa gegen Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten ebenso wie die USA.

„Weltweit erlebt die Mauer eine Renaissance“, schreibt Welzer. „Seit dem Mauerfall 1989 und dem damit markierten Ende des Kalten Krieges sind etwa 50 neue große Mauern weltweit entstanden, Tendenz steigend.“ Kein anderes Phänomen zeige deutlicher, dass die Menschheit sich in einer „Entzivilisierungsphase“ befinde.

Wegen staatlicher Konflikte gebe es derzeit Mauern auf Zypern, in Korea, zwischen Indien und Pakistan. Illegale Migration wehrten Mauern und Zäune in Ungarn (764 Kilometer), zwischen der Türkei und Syrien, den US und Mexico sowie Indien und Bangladesch. Wegen ethnischer und politischer Konflikte schließlich seien Mauern zwischen den Gebieten der Palästinenser im Westjordanland und israelischen Siedlungen entstanden, ebenso solche zwischen Saudi-Arabien und Irak sowie in der Westsahara durch Marokko. Welzer nennt das „Irrsinn“ und sagt: „Eine Gesellschaft für freie Menschen muss Intelligenteres zur Markierung von begründeten Zugehörigkeiten zu bieten haben als physische Grenzen.“

Die Europäer erinnert Welzer mit Blick auf den Fall des Eisernen Vorhangs daran, „welchen Gewinn an Freiheit und Lebensqualität die Inexistenz von Grenzen eröffnet“. Und an noch etwas erinnert er: dass Flüchtlinge und Zuwanderer „das Geld, das sie verdienen, wieder in den Wirtschaftskreislauf einbringen, also Dinge kaufen, Steuern zahlen, Tickets buchen, Wohnungen mieten“ – mithin zum Wachstum einer Volkswirtschaft beitragen.

Ein Buch, das den Blick weitet. Peter Köpf

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