Peter Köpf über den totalitären Moralismus der Salonlinken

23 Min.

Totalitärer Moralismus

Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden? Unter den Anhängern der AfD genießt Rosa Luxemburg naturgemäß wenig Ansehen – leider ist sie auch bei linken Liberalen keine Autorität mehr. In deren Blase kommt Moralisieren vor Analysieren und Argumentieren. Dabei gibt es genug harte Fakten, die gegen die AfD sprechen. Darüber redet jetzt eine Aussteigerin.

Ende Mai, Berlin, Demonstration gegen die „rassistische, völkisch-nationalistische, antifeministische und homofeindliche Agenda der AfD“. Junge Frauen bei der „glänzenden Demo“ gegen die „AfDisierung“: knappe Miniröcke, Glitzer-Make-up, als seien sie auf dem Weg ins Berghain oder Kater Blau. Falsch? Ach so, sie kommen direkt von dort zur „antifaschistischen Afterhour“ nach dem Motto: „AfD wegbassen.“ Hurra, die Party geht weiter. Das ist win-win, und die taz ist ganz begeistert: „Feiern als Form des Protests: Beats für eine bessere Welt.“ Plakate gab es auch: „Wenn die AfD die Antwort ist, wie dumm war dann die Frage?! Fck AfD!“ Welche Frage war das noch einmal? Äh, haben wir weggebasst – mitsamt dem „u“.

Selbstverständlich ist es richtig, die AfD mit harten Worten zu bekämpfen und deren widerliche Hasstiraden notfalls mit juristischen Mitteln. Aber „Nazis raus“ ist kein überzeugendes Argument, jedenfalls nicht für die Anhänger von Gauland und Höcke, Weidel und Storch. Nur werden abweichende Meinungen in der Bevormundungskultur des linksliberalen Medien- und Politikmilieus nicht argumentativ herausgefordert, sondern sofort und automatisch sanktioniert. Sich fortschrittlich, gebildet, linksliberal und tolerant wähnende, junge, urbane Meinungsbildner fällen schnelle Urteile. So twitterte am Wahlabend 2017 die inzwischen bei der Wochenzeitung Die Zeit beschäftigte „Stimme ihrer Generation“, Ronja von Rönne, an die Adresse der AfD-Wähler: „Ihr seid ignorante und schlechte, schlechte, schlechte Menschen.“ Bei dieser überzeugenden Argumentation werden AfD-Wähler sicher in Massen reumütig auf grün, hellrot oder wenigstens schwarz umschwenken, nicht wahr? Es spielt den Rechtsradikalen in die Karten, wenn realitätsfremde, sich für liberal oder links haltende Dogmatiker und Ideologen die Demokratie nur verteidigen, solange nicht die Falschen gewählt werden.

Wer die Attraktivität der AfD brechen will, muss vielmehr mit deren Anhängern diskutieren, statt im Kämmerchen Beleidigungen zu twittern und zu posten. So gesehen ist Rönne dann wieder zuzustimmen, wenn sie in einem Interview in der SZ vom 28. Juli sagt: Bei politischen Diskussionen „ärgert es mich, wie schnell und reflexhaft manche sich eine Meinung bilden“.

Franziska Schreiber liefert die Argumente für diese notwendige Diskussion – in ihrem Buch Inside AfD. Bericht einer Aussteigerin, das zu verfassen der Autor dieses Beitrags ihr half. 2013 hatte sie sich der AfD angeschlossen; sie gehörte dem Vorstand der Jugendorganisation Junge Alternative (JA) an. Wenige Tage vor den Bundestagswahlen trat sie aus, weil sie die Rechtsdrift der Partei inzwischen für äußerst bedenklich hält. Sie nennt die AfD eine reaktionäre Partei, ein beträchtlicher Teil der Mitglieder sei extrem nationalistisch. Die AfD lehne das „System“ ab, „die maßgeblichen Führungsfiguren betreiben den Umsturz“. Schreiber weiß, woher die Zustimmung zur AfD vor allem im Osten kommt, weshalb die Partei im Herbst auch in Bayern und Hessen hohe zweistellige Ergebnisse erzielen wird und im kommenden Jahr in Sachsen, Brandenburg und Thüringen sogar stärkste Kraft werden könnte.

Im Osten sind große Teile der Bevölkerung nicht zum ersten Mal unzufrieden mit den Entwicklungen. Niemand habe die Ostdeutschen nach dem Mauerfall gefragt, was sie eigentlich wünschten, so Schreiber. Den Kapitalismus fürchteten sie, schließlich waren sie politisch geschult; und viele behielten zu ihrem Leidwesen recht. Sie mussten „zusehen, wie die Besitzenden immer mehr anhäuften und die Armen nicht mithalten konnten. Sie sahen, dass unsolidarische Staaten internationale Unternehmen mit Dumpingsteuern veranlassten, ihre Gewinne ins Land zu verlagern“.

Niemand beachtete die historische Leistung der Ostdeutschen, die ohne einen Schuss und ohne Blut zu vergießen einen Systemwechsel herbeigeführt hatten. Stattdessen schienen die Wessis die Aufnahme der Ossis als einen „Akt der Güte und Milde“ zu betrachten, „als einen Gefallen, den sie den ehemaligen Bürgern der DDR getan hätten“. Und zu schlechter Letzt zogen westdeutsche Glücksritter die Brüder und Schwestern im Osten über den Tisch, was sie, als sie ihre Fehler bemerkten, zutiefst beschämte.

Später, so schreibt die 28-Jährige, staunten sie, dass Banken, die mit Steuergeldern gerettet wurden, mit den bekannten Geschäftsmodellen erneut Gewinne einstrichen und behalten durften; dass die einfachen Menschen die Zeche für rauschende Feste der Vergangenheit mit Arbeitslosigkeit und sinkenden Reallöhnen bezahlten. Sie glaubten, dass Politiker, wirtschaftlich der Büttel der längst unkontrollierbaren Großkonzerne, nicht mehr in der Lage seien zu gestalten. Unterm Strich: Die Volksvertreter hätten die Lage nicht mehr im Griff. Das glaubte damals auch eine wachsende Zahl von Wessis.

2013 entstand die AfD als eine Partei, die den Euro und die EU für des Teufels hielt. Als das nicht mehr zog, gewannen die Islamhasser um den in Rumänien geborenen Hans-Thomas Tillschneider an Einfluss, und dann kamen „Hunderttausende Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistani, Menschen aus einer anderen Kultur, mit anderer Religion, die ihnen – so fürchten die Verunsicherten – Arbeitsplatz, Wohnung und Sozialmittel streitig machten“. Die Regierenden, so kam es ihnen vor, hatten „ein Herz für allerlei Minderheiten“, nur nicht für sie, „die übervorteilten Ossis“. An den Wahlkampfständen hörte Schreiber immer wieder die Klage: „Wieso zeigt Merkel jetzt so viel Verständnis für die Flüchtlinge? Wir mussten damals auch alleine sehen, wie wir zurande kommen. Und wir konnten Deutsch!“

Die dauerhafte westliche Gleichgültigkeit und Arroganz beantworten seit 2014 viele Ostdeutsche mit Trotz und Wut bei Demonstrationen und an den Wahlurnen. Indem sie ihre Stimme der AfD geben, holen sie sich ihr Selbstbewusstsein zurück. „Ohne Scham oder Rücksicht auf politische Korrektheit“ stelle sich die Partei dem übermächtigen, arroganten System und den von ihm kontrollierten Medien. „Die AfD und ihre Wähler, vereint in tiefem Misstrauen gegen die Eliten, fürchten einen erneuten Umsturz nicht nur nicht, sondern verstehen ihn ausdrücklich als politische Option.“ Die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber erkennt darin einen „Hilferuf“.

Umsturz? Daran denken die Salonlinken schon lange nicht mehr. Statt den um Hilfe Rufenden eine Hand zu reichen, begegnen sie ihnen mit Arroganz. Wer die Aufnahme von mehr als einer Million Flüchtlingen in einem Jahr kritisierte, den bezeichneten Politiker als „Pack“ (Sigmar Gabriel) und TwitterInnen als „Nazi“.

Wer die Moral gepachtet hat, glaubt offenbar, keine überzeugenden Argumente zu brauchen. Aber es ist nun mal – zum Beispiel – nicht wegzuschweigen, dass es auch unter Flüchtlingen und Zuwanderern Gewalttäter gibt. Die Autoren von Gewaltstatistiken begründen das damit, dass unter Flüchtlingen viele junge Männer sind, die auch unter Einheimischen auffälliger sind als 80-jährige Großmütter. Aber das ist keine hinreichende Antwort für Leute, die einen „Gewaltimport“ beklagen. Hätte Merkel sie nicht hereingelassen, sagen sie, würde die Freiburger Studentin noch leben. Dieses Argument verlangt nach Antworten. Zynisch ist, beim Blick auf kriminelle Flüchtlinge darauf hinzuweisen, dass deren Opfer meist andere Flüchtlinge sind, auch weil die Gewalt häufig innerhalb von Asyleinrichtungen geschieht. Das, nebenbei bemerkt, ist allenfalls ein Argument gegen solche Massenlager.

Wir müssen über das reden, was real ist. Wer aber die Probleme der Zu- und Einwanderung differenziert diskutieren wolle, über die Problematik offener Grenzen, über innere Sicherheit und No-Go-Areas, über Probleme mit bestimmten Migrantengruppen und die schwierige Frage der Arbeitsintegration von Flüchtlingen reden wolle, werde „aus dem inneren Zirkel der Weisheitsträger des ‚progressiven Neoliberalismus‘ ausgeschlossen“ und als „Helfer der Populisten“ denunziert. Darauf hat Nils Heisterhagen kürzlich hingewiesen.

Aber was treibt Linke dazu, über offensichtliche Probleme zu schweigen, die einige der Flüchtlinge aufwerfen? Weil damit, so flüstern sie, das Feld der Rechten bestellt werde, namentlich der AfD. Das ist Unsinn. Gerade darüber nicht zu reden – und das geschah viel zu lange –, sorgt für Zulauf bei den Rechten. Auch wer meint, sie rechts überholen zu können, hat keinen Erfolg. Die AfD bei TV-Debatten auszuschließen, bedeutet eine vergebene Chance. Wer gut vorbereitet, also mit Fakten und Argumenten versehen, in die Auseinandersetzung geht, braucht die sogenannten Rechtspopulisten nicht zu fürchten.

Beispiel: Die Zuwanderer, denkt der gemeine AfDler, liegen uns auf der Tasche und nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Aber für den Verlust von Arbeitsplätzen, etwa bei Opel in Eisenach, sind nicht die Zuwanderer und Flüchtlinge verantwortlich. Zuwanderer, die arbeiten dürfen, drücken auch nicht die Löhne – das tun die Unternehmen. Und wenn ein Flüchtling endlich Geld verdienen darf, könnte er sich irgendwann sogar einen Opel kaufen – und so dafür sorgen, dass weiter produziert wird.

Die Mühe des Argumentierens wollen sich die realitätsvergessenen linksliberalen Rechthaber und BesserwisserInnen in Politik und Medien nicht machen. Sie begnügen sich einstweilen damit, Frauenrechte in Afghanistan nach europäischem Maßstab einzufordern (während sie in Deutschland das Recht von Musliminnen auf kulturelle Andersartigkeit verteidigen), sie verlangen Gleichberechtigungspissoirs und feministisch saubere Pornos. Die Abkanzler von links gefallen sich außerdem darin, ohne Legitimation immer neue Verhaltens- und Sprachregeln zu erfinden, einzuführen, durchzusetzen und in bester Blockwartmanier zu überwachen. Sie empören sich darüber, dass eine Apotheke „Mohren-Apotheke“ heißt und ein Lyriker – wie in Berlin geschehen – in einem Gedicht Frauen bewundert. Wenn Kuba sich eine neue Verfassung geben, Privatbesitz anerkennen und sich vorsichtig für die Marktwirtschaft öffnen möchte, dann titelt das „neue newsportal“ watson: „‚Bund zwischen 2 Personen‘ – Kubas neue Verfassung ermöglicht Ehe für alle.“ Selbstverständlich war das eine erfreuliche Meldung für Homosexuelle und ihre Menschenrechte. Aber für die alle Kubaner betreffenden 224 Verfassungsartikel blieb ein Absatz, der letzte. Das nennen sie diversity.

Die Tiraden der Rechten sind die Folge eines moralischen Rigorismus derer, die ihre Werte, ihre Vorstellung vom guten und richtigen Zusammenleben für beispielgebend halten. Aber wer sagt denn, dass der Prenzlauer Berg-Way of Life der Maßstab sein soll, nach dem alle Deutschen von Berlin bis Bad Tölz, von Essen bis Eisenhüttenstadt zu leben haben? Dabei müssten selbst linke Volkserzieher erkennen: Dass alle Deutschen die gleichen Werte leben wollen, trifft nicht einmal für alle Stadtteile der Hauptstadt zu.

Im vorigen Jahrhundert galt unter Linksliberalen noch das Wort Rosa Luxemburgs, wonach Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden bedinge. Wenn die Andersdenkenden ihre Argumente ausgebreitet hatten, dann gab es Kontra und eine Debatte, keine elektronischen Kotböen. Das nannte man zu Zeiten der großen Debatten Demokratie.

Nicht jeder, liebe Antifaschisten, der sich vor den vielen Flüchtlingen fürchtet oder Europa kritisch sieht, wählt die AfD. Besorgte gibt es viel mehr als 15 oder 20 Prozent. Nicht jeder, der es für möglich hält, dass sich unter die Flüchtlinge Kriminelle und Gewalttäter gemischt haben könnten oder, wie der Autor Constantin Schreiber (Inside Islam), einfach nur berichtet, „was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“ (so der Untertitel seines Buchs), ist ein „Nazi“ und wählt die AfD – andernfalls erhielte diese Partei vermutlich die Mehrheit der Stimmen.

Nicht jeder, liebe Kulturrelativisten, der die Unterdrückung von muslimischen Frauen kritisiert, ist ein Fremdenfeind oder Islamhasser. Vielmehr könnte, wer Ungleichheit in muslimischen Gesellschaften als kulturelle Eigenart und Unterdrückung oder Misshandlungen als Folklore betrachtet, die zu tolerieren seien, schlicht ein Ignorant sein.

Nicht jeder, liebe Hashtagfeministinnen, der nicht korrekt gendert, ist ein Sexist und wählt die AfD. Im Gegenteil: Es gibt Männer, die schon lange für Frauenrechte eintreten, aber das Gendern für unnötig und übertrieben, ja für kontraproduktiv halten. Es wählt auch nicht jeder die AfD, der den Zwang zu political correctness für übertrieben hält. Und das aus einem simplen Grund: Weil es den meisten Menschen zu viele Rechtsextremisten in der AfD gibt, wie Franziska Schreiber detailliert und kenntnisreich zeigen kann.

Die Gesinnungsprüferitis der – einmal muss das Wort gebraucht werden – Gutmenschen ist abstoßend, in ihrer Rigorosität totalitär und heuchlerisch, wo sie auch noch verlogen daherkommt. Alles andere als überzeugend ist nämlich, wer sich als Klimaschützer aufspielt, aber auf Coffee to go im Einwegbecher und Brausedrinks aus Aluminiumdosen nicht verzichten will, sich in Onlineshops Berge von Klamotten bestellt und nach Anprobe wieder zurückschickt sowie für ein Champagnerfrühstück nach Paris jettet; dass die deutschen Wirtschaftsverbände Flüchtlinge willkommen heißen, sollte den Refugees welcome-Jüngern wenigstens zu denken geben, denn die Industriekapitäne erwarten billige Arbeitskräfte, Konkurrenz für die deutsche „Generation Anspruch“. Einigermaßen erschrecken könnte die TTIP-Sieger auch, dass Donald Trump ihnen als Gegner von internationalen Handelsverträgen zur Seite springt. Macron zu huldigen, weil er so dynamisch ist und zu seiner Ehefrau steht, ist auch keine Politik, wenn übersehen wird, dass er die deutsche Agenda 2010 anstrebt, die Vermögenssteuer abschaffen und die Kapitalertragssteuern senken will, also ein Knecht des Kapitals ist. Lächerlich wird es, wenn Genderfeministinnen behaupten, Vergewaltigung werde in Deutschland „weitgehend toleriert“ – und dabei nicht merken, dass sie die Worte der Rechtsaußen benutzen.

Was die Diversity-PredigerInnen aus den Augen verlieren, sind die großen Themen, die philosophischen sowieso: Ist Privateigentum gerecht? Bedeutet Kapitalismus tatsächlich Freiheit? Oder führt diese Wirtschaftsideologie zwangsläufig zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen? Wieso blenden sie solche Fragen aus? Vielleicht weil sie für sie selbst keine Bedeutung haben? Weil die soziale Frage bei denen keine Rolle spielt, die dank potenter Elternhäuser die Sorgen und Nöte derer nicht teilen müssen, die kein Erasmusprogramm genießen durften und noch Miete bezahlen, weil sie keine Wohnung geerbt haben? Weil sie sich darauf verlassen dürfen, bald die attraktiven, gut bezahlten Jobs der abtretenden Babyboomer übernehmen zu können? Weil Vermögen von mehreren Billionen Euro auf ihre Erben warten, nämlich ihresgleichen? Akzeptieren sie stillschweigend leistungslose Einkünfte großer Aktienbesitzer, weil sie selbst welche im Portfolio haben?

Wenn die salonlinken Spaßdemonstranten gegen die „rassistische, völkisch-nationalistische, antifeministische und homofeindliche Agenda der AfD“ demonstrieren, vergessen sie das Thema, mit dem sie diese Partei argumentativ bekämpfen könnten: Sozial- und Wirtschaftspolitik. Globalisierung, Deregulierung, die Macht des Finanzkapitals, der Banken, der multinationalen Konzerne sind Angstthemen in der AfD-Wählerschaft. Und so wäre eine Alice Weidel, deren Aufgabe bei Goldman Sachs und Allianz Global Investors es war, Kapitalbesitzer noch reicher zu machen, auf diesem Feld angreifbar.

Der ostdeutsche Journalist Paul Schreyer hat in seinem Buch Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie? festgestellt, „dass die AfD in den Medien und von den anderen Parteien nur für ihre populäre Oberfläche kritisiert wird, also ihre Ansichten zum Islam und zu Geflüchteten, aber kaum für den wirtschaftsradikalen Kern ihres Programms. Tatsächlich vertritt die AfD demnach eher Wirtschaftsinteressen als die des „kleinen Mannes“. Sie befürwortet einen schlanken Staat, den nur die Reichen sich leisten können. Das Programm fordert auf der Arbeitnehmerseite Mindestlohn und Begrenzung von Leih- oder Werkverträgen sowie das vage Versprechen einer Entlastung der geringen und mittleren Einkommen. Gutverdiener mögen eine Deckelung der Abgabenlast bei 40 Prozent begrüßen. Den Vermögenden verspricht die AfD die Abschaffung der Erbschaftssteuer und die Ablehnung einer Vermögenssteuer, die dazu beitragen könnte, die – den Zusammenhalt einer Gesellschaft sprengende – Spreizung der Schere bei privatem Besitz zu mildern, die Kluft zwischen Arm und Reich. Außerdem will die AfD weniger Staat und mehr Freiheiten für Unternehmen, sie will regulierende Gesetze abbauen und Privatisierungen (Autobahn, Gesundheitswesen etc.) fördern.

Wie kann, wer die Globalisierung – und den weitgehenden Verzicht auf internationale Gesetze, die den Kapitalismus einhegen – als Ursache sozialer Verwerfungen erkennt, AfD wählen? Statt diese Frage zu stellen, so Paul Schreyer, pflegten beide Seiten ihre Feindbilder, was für sie viel ergiebiger sei. Auch auf der Wegbass-Demo waren Wirtschaft und Soziales kein Thema.

Statt die Wähler der AfD als „schlechte, schlechte, schlechte Menschen“ zu dissen, käme es darauf an, Kritik an diesen Leuten mit sachlichen Argumenten zu unterfüttern. Die Partei hat sich nach 2014 stetig radikalisiert, rechtsradikale Schreihälse haben zunehmend Führungspositionen übernommen. Mag sein, dass die meisten Anhänger der Partei sich zurzeit nicht dafür schämen, in den Chor von Hunderten einzustimmen, die den Verbalfäkalien eines Poggenburg oder Höcke begeistert Beifall klatschen. Aber beschämend und verstörend ist es, von einer Insiderin wie Franziska Schreiber zu hören, wie viele Mitglieder 2016 einen Terroranschlag herbeisehnten. „Jetzt müsste es mal krachen“, hörte Schreiber immer wieder. „Dann würden die Leute sehen, wie recht wir haben.“ Und als Anis Amri einen gestohlenen Lastwagen auf den Berliner Weihnachtsmarkt lenkte und ein Dutzend Menschen tot waren, sah sie öfter die jubelnde „Becker-Faust“, als dass sie Worte des Bedauerns oder Mitleids für die Opfer gehört hätte.

In der AfD, so Schreiber, gilt die Behauptung als zutreffend, dass Muslime vergewaltigen, weil sie so veranlagt sind. Weil das angeblich nicht zu ändern ist, sei das hinzunehmen. Nicht hinzunehmen ist selbstverständlich, wenn Muslime „unsere“ Frauen belästigen, in unserem Land. Die AfD-Lösung: Wir schicken sie zurück, dort können sie nach ihren Traditionen leben – und vergewaltigen. Wer kann sich denn ruhigen Gewissens mit derartiger Heuchelei gemein machen? Wer kann da noch in den Spiegel schauen, ohne zu erröten?

Dass die AfD sich bei der Frage der Benachteiligung der Geschlechter vor allem um die Männer kümmert: geschenkt. Aber wie kann eine Alice Weidel, die mit ihrer Partnerin zwei Kinder aufzieht, es ertragen, einer Partei anzugehören, welche die Homoehe vehement und auf beleidigende Weise ablehnt? Wieso widerspricht niemand, wenn Nicolaus Fest in einem seiner widerlichen Videos sagt: „Ehe für alle kann auch heißen: Päderastie für alle.“ Wie kann ein fühlender Mensch so viel Niedertracht von Parteifreunden erdulden? Wie kommt es zu diesem erschreckenden Mangel an Anstand, diesem abstoßenden Ausbund an Zynismus und politischer Pflicht- und Verantwortungsvergessenheit?

Da ist, so Schreiber, „das Gefühl, von außen permanent angegriffen zu werden“. Weil ihr aus der „alten“ Welt Ablehnung entgegenschlug, habe auch sie alte Verbindungen abgebrochen, bis hin zur eigenen Familie. „Da alle gegen uns waren, mussten wir zusammenrücken. So entstand eine Art ‚Lagerfeuerromantik‘.“ Am wärmenden Feuer sitzend, habe auch sie als JA-Vorsitzende rechtsextremistische Aussagen von Parteimitgliedern und deren Kontakte zu Identitären und anderen Rechtaußen-Figuren verteidigt. Schließlich gelte in der AfD das uneingeschränkte Recht der freien Rede.

Überflüssig zu erwähnen, dass auch in der AfD Meinungsfreiheit nicht für „die ganze Bandbreite“ gilt, die sie angeblich hören und lesen wollen. Meinungsfreiheit heißt auch in der AfD, sich keine alternativen Meinungen anhören und damit auseinandersetzen zu müssen. Als „ignorante und schlechte, schlechte, schlechte Menschen“ gelten in dieser Partei die „Systemlinge“ und das „links-rot-grün-versiffte 68er-Deutschland“ (Jörg Meuthen) sowie die „Homolobby“.

In der Blase AfD, so Schreiber, werden die eigenen Ansichten bestätigt, im Facebook-Netzwerk werde die AfD-Welt zur Realität, das verbale Trommelfeuer der Rechtsradikalen beseitige letzte Zweifel und erzeuge Mut, sich selbst zu äußern. „Wer nur noch in Parteikreisen verkehrt, dem fehlt das Korrektiv. In der Echokammer AfD werden die eigenen Ansichten immer wieder bestätigt. So entsteht zwangsläufig die Vorstellung einer schweigenden Mehrheit.“ Die verbindenden Elemente in der AfD seien „Trotz und Wut, ja Hass gegen Andersdenkende, der sich bis hin zu Gewalt- und Mordfantasien steigern kann. Und so, als Wut-Bürger, finden sie dann doch wieder Interesse und Aufmerksamkeit. Die äußert sich zwar in Ablehnung, aber in einem Punkt sind sich PR-Berater, AfD-Funktionäre und quengelnde Kleinkinder einig: negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine Aufmerksamkeit“.

Darin haben sie viel gemein mit den Salon-Linken. Auch sie sitzen in einer Blase. Und auch sie buhlen um Aufmerksamkeit. Vor allem aber zerstören beide Seiten auf widerwärtige Weise die demokratische Debattenkultur.

Erschienen in der Herbstausgabe 2018 des wunderbaren politischen Kulturmagazins „Die Gazette“

 

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